Handwerksgeschichte im Fokus

 Dr. Thomas Felleckner im DHZ-Interview

Archiv, Historische Fotos, Kammergebäude, Kurzchronik

Das Handwerk hat in seiner Geschichte viele Angriffe überstanden: Um ein Haar etwa hätten die Amerikaner dem Meisterbrief den Garaus gemacht, später rückte Bundeskanzler Gerhard Schröder etlichen Gewerken zu Leibe. Historiker Dr. Thomas Felleckner beschreibt im Interview mit der Deutschen Handwerks Zeitung (DHZ), warum das Handwerk trotzdem obenauf blieb (Autor: Steffen Range).

DHZ: Wann beginnt die Geschichte des deutschen Handwerks?

Thomas Felleckner: Ich sage gern, das deutsche Handwerk ist so alt wie das deutsche Volk. Und dann wundern sich einige Leute und entgegnen mir, das deutsche Volk sei doch viel älter. Aber seit wann sprechen die Deutschen von sich als Deutsche? Das wiederum lässt sich relativ genau datieren. Die deutschen Könige, die über die Alpen nach Italien gezogen sind mit ihren Volksstämmen, haben sich natürlich nicht als Deutsche begriffen, sondern als Sachsen oder Franken, Schwaben oder Bayern. Aber die Italiener haben sie Deutsche genannt. Diese Fremdwahrnehmung wurde nach und nach von den Deutschen selbst übernommen. Die Italienzüge beginnen Ende des 10. Jahrhunderts. Also kann man sagen, ungefähr im Zeitraum zwischen dem Jahr 1000 und 1200 beginnen die Deutschen, sich als Deutsche zu verstehen. Und zwar durch eine Erfahrung im Ausland, wo sie als solche bezeichnet wurden.

Und was hat das mit dem Handwerk zu tun?

Ungefähr in dieser Zeit entstehen die ältesten organisierten Handwerkszusammenschlüsse. Deswegen kann man mit gewisser Berechtigung sagen, das deutsche Handwerk ist so alt wie das deutsche Volk. Die Qualitätsstandards, die wir bis heute kennen, entwickeln sich dann im 14. und 15. Jahrhundert. Und die Zeit zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert gilt heute Vielen als die Blütezeit des Handwerks.

Bei der Entstehung des Handwerks und seiner Strukturen spielen Sie auf die Zünfte an...

Es wird immer behauptet, Zünfte seien alt und unmodern. Aber in dieser Zeit entsteht im zünftigen Handwerk auch ein Vorläufer unseres heutigen Sozialversicherungssystems. Die Zünfte waren in ihrer Zeit also durchaus fortschrittlich.

Wodurch endet die Blütezeit des Handwerks?

Die erste Krise beginnt im 18. bis 19. Jahrhundert. Das Missverhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und stagnierendem Nahrungsmittelangebot führte damals zu Arbeitslosigkeit und Verarmung. Dann kamen noch die Manufakturen dazu, also fabrikähnliche gewerbliche Betriebe, aber das fällt noch nicht so groß ins Gewicht. Schlimm wird es im 19 Jahrhundert. Der sogenannte Pauperismus, also die Massenverelendung, trifft das städtische Handwerk hart. Außerdem ändern viele Regierungen in dieser Zeit ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Ab 1871 gilt im gesamten Deutschen Reich die Gewerbefreiheit. Zünfte, die auf Gewerbemonopolen basieren, waren damit nicht mehr vereinbar.

Lag die Krise des Handwerks nicht vor allem im Aufkommen der Industrie?

Die Ersetzung von Handarbeit durch Maschinen im großen Maßstab wird von denZeitgenossen – und auch heute noch – in ihrer langfristigen Wirkung auf das Handwerk überschätzt. Selbst in den Manufakturen wurde großenteils handwerklich gearbeitet. Das änderte sich langsam durch die Industrie. Aber die Industrie war nicht der Feind des Handwerks.

Was kennzeichnete das Verhältnis Industrie und Handwerk seinerzeit?

Die Industrie profitierte von den handwerklichen Fachkräften, das ist bis heute so. Aber zugleich profitierte auch das Handwerk von der Industrie. Wir wissen heute, dass sich das Handwerk dort besonders gut weiterentwickelte, wo die Industrialisierung früh stark war, weil sie dort eben auch neue Arbeitsplätze und Kaufkraft schuf. Die Industrie unterstützte deshalb den Wunsch des Handwerks nach einer Einschränkung der Gewerbefreiheit. Das Ergebnis war das Handwerksgesetz von 1897. Das Handwerk allein hätte dieses Gesetz nicht durchgesetzt. Es war die Industrie, die gesagt hat, wir brauchen das Handwerk als Lieferant für qualifizierte Nachwuchs- und Fachkräfte. Wir hatten damals eine Fachkräftekrise, die weit schlimmer war als die heutige, und die wurde zum Teil dadurch gelöst, dass das Handwerk wieder eine Struktur bekam. Die Gewerbefreiheit seit 1871 und die Erneuerung des Handwerks durch das Gesetz von 1897 sind zentrale Entwicklungspunkte.

Warum ist das Handwerksgesetz von 1897 so zentral?

Darauf fußt alles Spätere und daraus ergibt sich langfristig eine völlig neue Arbeitsteilung zwischen Handwerk, Industrie und Dienstleistungssektor. Diese Entwicklung läuft bis heute. In dieser neuen Arbeitsteilung zwischen Industrie und Handwerk scheint das Handwerk sogar langfristig der stärkere, ganz sicher jedoch der zähere Partner zu sein.Denn Industrie kommt und geht. Wenn wir uns die großen Industrieansiedlungen im 19. Jahrhundert anschauen, stellen wir fest, dass von denen sehr viele bereits wieder verschwunden sind. Im Ergebnis bleibt das Handwerk bestehen, während die Industrie historisch betrachtet in vielen Regionen eher eine zeitlich begrenzte Erscheinung ist. Allerdings musste sich das Handwerk dafür mehrere Male gründlich wandeln.

Inwiefern musste sich das Handwerk anpassen?

Es musste von Monopolen Abschied nehmen. Es musste von exklusiven Strukturen Abschied nehmen, von den Zünften. Die Besitzstandswahrung der Zunftmeister musste dem Prinzip der Qualifizierung weichen. Es musste intern demokratisiert werden. Aber auch technisch und sozial musste sich das Handwerk öffnen.

Was zeichnet das Gesetz von 1897 noch aus?

Neben der Einschränkung der Gewerbefreiheit ist ein zentraler Punkt dieses Gesetzes die Schaffung der Handwerkskammern. Außerdem ist dieses Gesetz eine Art Geburtsstunde des dualen Systems. Natürlich, es sind noch nicht alle Strukturen da. Wir haben noch keine Berufsschule. Aber wir haben Vordenker wie zum Beispiel den Münchner Schulleiter Georg Kerschensteiner, der heute leider etwas in Vergessenheit geraten ist. Menschen wie Kerschensteiner haben sich Gedanken darüber gemacht, wie eine berufliche Schule für Handwerker aussehen könnte. Ihnen war damals schon klar – und das ist ja bis heute prägend für die handwerkliche Lehre –, dass sie eine besondere Verbindung zwischen Theorie und Praxis benötigt, die nicht gleichzusetzen ist mit der akademischen oder rein verschulten Bildung.

Das klingt fortschrittlich für die damalige Zeit...

Und ob. Die Geburtsstunde der Handwerkskammern fällt mitten in die Zeit des Kaiserreichs. 1897 kommt das Gesetz, 1900 wurden die Kammern gegründet. Eine Selbstverwaltungsorganisation mit Mitbestimmung durch Arbeitnehmer – das war ganz außergewöhnlich für diese Zeit. Man muss bedenken, dass sehr viele der ersten sozialdemokratischen Ortsgruppen damals von Handwerksgesellen gegründet und geleitet wurden. Otto von Bismarck war bis 1890 Reichskanzler. Genauso lange galten seine Sozialistengesetze, durch die politisch organisierte Arbeitnehmer und Sozialdemokraten als Reichsfeinde bekämpft und verfolgt wurden. Und in dieser Zeit wird eine Selbstverwaltungsorganisation mit Arbeitnehmerbeteiligung gegründet. Die Kammern waren von Anfang an eine moderne, zukunftsweisende Einrichtung.

Die Kammern waren von Anfang an eine moderne, zukunftsweisende Einrichtung.

Was war die Aufgabe der neu gegründeten Kammern?

Die wichtigste Aufgabe war die Fachkräftequalifizierung. Es geht nicht mehr darum, dass abgeschottet wird, dass den Leuten vorgeschrieben wird, wann sie wie mit wie vielen Leuten und welchen Materialien irgendwelche Sachen herzustellen haben, sondern um Qualifizierung. Die Qualifizierung spielte auch bei den alten Zünften eine Rolle, aber eben nicht die Hauptrolle. Die bestand in der Besitzstandswahrung der beteiligten Betriebe und Meister. Es ging also nicht in erster Linie um Qualität. Das ändert sich jetzt entscheidend durch den Kleinen Befähigungsnachweis von 1908, also die Befähigung zur Ausbildung gekoppelt an die erfolgreiche Meisterschaft. Und dann 1935 durch den Großen Befähigungsnachweis. Das ist die Koppelung der selbstständigen Ausübung eines Handwerks an die Meisterschaft im Gewerk.

Ein Gesetz aus der Zeit des Nationalsozialismus...

Der Große Befähigungsnachweis ist lange Zeit das Odium eines Gesetzes aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht losgeworden und natürlich ist er auch tatsächlich in dieser Zeit eingeführt worden. Aber auch hier muss man die langen Stränge der Geschichte verfolgen. Im Zunfthandwerk hatte er ohnehin immer gegolten und mindestens seit 1848 war der Große Befähigungsnachweis eine zentrale Forderung des Handwerks gewesen. Damit stellt 1935 insofern einen relativen Endpunkt dar, weil nun die Qualifikation der Ausbilder, also der Meister, umfassend gewährleistet war. Wenn wir über das Gesetz von 1897 sprechen, ging es aber zunächst darum, dass die Kammern die Ausbildung neu organisieren sollten. Denn in einer qualitativ hochwertigen Ausbildung trafen sich das Interesse des Staates, der Industrie und des Handwerks und das führt dann fast zwangsläufig zum Großen Befähigungsnachweis. Wir müssen also zwischen 1897 und 1935 eine logische Verbindung sehen. Vor allem müssen wir die 1897 geschaffenen Grundlagen und die Ursachen, die zu ihrer Entstehung führten, kennen, sonst hängen die Strukturen in Westdeutschland nach 1945 oder 1949 in der Luft. Möglicherweise hätte es sie sogar überhaupt nicht in der Form gegeben.

Also haben die Handwerksstrukturen die NS-Zeit sozusagen überdauert?

Nach 1945 war Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt. Die Besatzungsmächte hatten generell sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Wirtschaftsordnung, aber natürlich auch zum Gewerberecht und zum Handwerksrecht. Nehmen wir nur die beiden wichtigsten im Westen, die Briten und die US-Amerikaner. Die Engländer haben bereits im Dezember 1946 in ihrer Besatzungszone eine sogenannte Aufbauverordnung erlassen, die in weiten Teilen die Handwerksordnung von 1953 fast vorwegnimmt. Diese Aufbauverordnung geht praktisch zurück zu den demokratischen Strukturen der Handwerksorganisation vor 1933/34. Sie setzt sie sozusagen wieder in eine demokratische Tradition zurück.

Ganz anders lief es in der amerikanischen Zone…

Genau, dort lief es komplett anders. Da wurde 1948 die Gewerbefreiheit eingeführt und die sollte sogar 1950 auf alle westlichen Zonen ausgeweitet werden. Um das abzuwenden, bedurfte es einer konzertierten Aktion. Die Engländer hingen ökonomisch völlig von den Amerikanern ab, sie hätten sich nicht allein dagegenstellen können. Sämtliche demokratischen deutschen Parteien waren gegen die Gewerbefreiheit. Selbstredend war auch die Handwerksorganisation dagegen.

Welche Argumente wurden damals angeführt?

Es existieren sehr gute Analysen einer Wirtschaftskommission der Bizone, die belegen, dass in der amerikanischen Zone zwar seit Einführung der Gewerbefreiheit massenhaft Gründungen erfolgten. Aber zugleich gab es auch viel mehr Schließungen. Die Qualität nahm ab, es wurde nicht ausgebildet. Es passierte all das, was man nach 1870 auch schon auf Reichsebene beobachten konnte und was letztendlich zum Handwerksgesetz 1897 geführt hatte. Trotzdem musste der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer persönlich bei John Foster Dulles, dem amerikanischen Außenminister, intervenieren. Das Ergebnis war die Handwerksordnung von 1953.

Es hätte auch ganz anders kommen können?

Das war kein Selbstgänger. Die Amerikaner hätten die Gewerbefreiheit damals durchsetzen können, wenn sie gewollt hätten. Aber sie waren zumindest so offen, dass sie sich auf Einschränkungen einließen. Im Bewusstsein, die Entscheidung notfalls auchrückgängig machen zu können, wenn es nicht funktioniert. Aber es klappte.

Die Amerikaner hätten die Gewerbefreiheit damals durchsetzen können, wenn sie gewollt hätten.

Wie würden Sie die Rolle des Handwerks unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg beschreiben?

Das Handwerk spielte beim Wiederaufbau in Deutschland zwischen 1945 und 1955 eine große Rolle, die zumindest in der unmittelbaren Nachkriegszeit größer und wichtiger war als die der weitgehend zerstörten Industrie. Das Handwerk konnte praktisch vom ersten Tag nach der Kapitulation wieder arbeiten und tat es auch. Also der Übergang von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft, die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigsten Dingen – das alles hat das Handwerk geleistet nach 1945.

Wie entwickelte sich das Handwerk, nachdem die größten Kriegsschäden beseitigtwaren?

Die Zeit 1955 bis 1965 würde ich als erste Phase der Modernisierung beschreiben, geprägt durch eine Mechanisierung und Motorisierung. Der Strukturwandel beginnt zunächst ganz zaghaft. Wir haben noch sehr viele Schuhmacher. Wir haben noch sehr viele Schneider. Aber man merkt, es wird schwieriger, weil die Industrie in immer mehr Bereiche vorstößt und die Bevölkerung mit Produkten des täglichen Lebens versorgt. 1965 folgt die Überarbeitung der Handwerksordnung. Das ist eher eine kleinere Reform, die die Definition der handwerksähnlichen Gewerbe brachte.

Doch es blieb nicht bei zaghaften Reformen, das Handwerk wird in der Folgezeit ganz schön durchgerüttelt…

Die Zeit zwischen 1965 bis 1975 ist fast für die gesamte Bundesrepublik mit dem Ausbau des Bildungssektors verbunden. 1969 kommt das Berufsbildungsgesetz. Das ist deswegen so wichtig, weil die Industrie in dieser Zeit sozusagen das duale Ausbildungssystem übernimmt, das das Handwerk schon vorher hatte. Dadurch wird das duale Bildungssystem insgesamt qualitativ besser, da die Industrie wissenschaftliche Erkenntnisse und Strukturen einbringt. Hier zeigt sich abermals: Die Industrie schließt sich sozusagen dem Handwerk an. Auch das Bundesinstitut für berufliche Bildung entsteht in dieser Zeit. Dort machen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam um die Weiterentwicklung von Berufsbildern verdient, eine wegweisende Neuerung, denn hier entsteht ein praxisnahes, lebendiges System. Ebenso wird in dieser Zeit eine Vielzahl von Berufsschulen gegründet. Flächendeckend eingeführt wird die ÜLU, also die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung. Und bei den Handwerkskammern entstehen die ersten großen Bildungszentren.

In der Zeit um 1968 gab es allerdings auch Aufstände der Lehrlinge. Wie bewerten Sie diese Unruhen?

Das hat zu tun mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Die 68er-Bewegung wirkt sich auf viele Bereiche aus. Aber eigentlich ging es um drei Dinge: um vernünftige Behandlung, vernünftige Bezahlung und eine vernünftige Struktur in den Betrieben. Ich würde sagen, die Forderungen der Auszubildenden waren aus heutiger Sicht berechtigt und zeitgemäß.

In dieser Zeit hatten auch die Gewerkschaften Oberwasser...

Bei den Gewerkschaften ging es noch um etwas anderes. Es ging um den Anteil der Gewerkschaften beziehungsweise der Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter an der Handwerksorganisation. Gemeint sind hier vor allem die Handwerkskammern als Angelpunkt, Scharnier und Fundament der Handwerksorganisation. Dieses Thema wird bis heute verhandelt.

Ein gravierender Einschnitt in der Geschichte ist die Wiedervereinigung 1989/1990. Welche Rolle spielte das Handwerk hierbei?

Die Integration des Handwerks der neuen Bundesländer war eine große Leistung. Wenn das nicht zu pathetisch klingt, möchte ich sagen, nach 1989 hat sich das deutsche Handwerk um das Vaterland verdient gemacht. Und zwar, weil es stabile soziale Strukturen und Arbeitsplätze geschaffen hat, die ganz erheblich zum sozialen Friedenbeigetragen haben.

Wenn das nicht zu pathetisch klingt, möchte ich sagen, nach 1989 hat sich das deutsche Handwerk um das Vaterland verdient gemacht.

Eine rosige Zeit fürs Handwerk?

So einfach ist es nicht. Es beginnt auch ein Strukturwandel in dieser Zeit. Zwischen 1975 und 1995 erleben wir große Rückgänge in den ehemaligen Massenhandwerken. Damit beginnt eine Entwicklung, die sich bis heute fortsetzt. Es verschwinden zwar Betriebe, aber viele der verbleibenden Betriebe werden größer. Auf der anderen Seite sehen wir bei zulassungsfreien und handwerksähnlichen Gewerken eine zunehmende Zahl an Ein-Personen-Betriebe, die oft prekär aufgestellt sind. Gleichzeitig erleben wir zwischen 1995 und 2005 eine Abnahme des Organisationsgrads bei den Innungen.

Was sind die Folgen dieser Entwicklung?

Viele Gewerke, die mal groß und wichtig waren, schrumpfen zu Nischengewerken, verschwinden bemerkenswerterweise aber nicht ganz. Es gibt immer noch Schneider. Es gibt Goldschmiede. Es gibt sogar noch Küfer oder Stellmacher. Es entstehen auch neue Gewerke, entweder dadurch, dass sich die Technologie ändert oder weil sich mehrere Gewerke zusammenschließen. Das SHK-Handwerk ist dafür ein gutes Beispiel. Wir erleben jedoch nicht nur die Zusammenlegung von Kompetenzen, sondern auch die Verbreiterung von Berufsbildern. Ein Tischler darf heute viele Sachen machen, die ihm im Mittelalter verboten waren.

Von der Politik kam in dieser Zeit nicht nur Unterstützung...

Ein bedeutender Einschnitt war 2004 die massive Dequalifizierung des Handwerks durch die damalige rot-grüne Regierung Schröder/Fischer. Zum ersten Mal demontiert eine deutsche Regierung aktiv die Handwerksorganisation – und macht aus damals 94 Meisterberufen 41. Eigentlich sollten es sogar nur 29 werden. Die 41 sind also bereits das Ergebnis eines nicht immer systematisch, aber doch sehr engagiert geführten Kampfes der Handwerksorganisation. Damals sind auf beiden Seiten Fehler gemacht worden. Der Politik kann man durchaus Ignoranz bescheinigen. Aber auch bei der Handwerksorganisation wäre es gut gewesen, wenn man sich der Argumente, die man durchaus zur Verfügung hatte, besser bedient hätte.

Zum ersten Mal demontiert eine deutsche Regierung aktiv die Handwerksorganisation.

Diese Scharte wurde zwei Jahrzehnte später wieder ausgewetzt...

Ja, im Prozess der sogenannten Rückvermeisterung – zugegeben ein komisches Wort – von 2020 wurden gute Argumente angeführt, um Berufe in die Meisterpflicht zurückzuholen: Schutz von Leben und Gesundheit, Wahrung von Kulturgütern und immateriellesKulturerbe, Sicherung der Ausbildungsleistung und Nachwuchsförderung. Alles schön und gut. Aber das war nicht der eigentliche Grund.

Was denn?

Es hatte sich herausgestellt, dass die Zulassungsfreiheit nichts anderes ist als die Gewerbefreiheit von 1871 im kaiserlichen Deutschland und 1948 in der amerikanischenBesatzungszone. Und es zeigten sich die gleichen negativen Folgen. Dieser Fehler ist korrigiert worden, leider jedoch nicht so vollständig wie sich das Handwerk das gewünscht hätte.

Wie entwickelte sich das Handwerk nach dem Konflikt mit der Regierung Schröder?

Es begann eine weitere Phase der Modernisierung. 2005 bis 2015 ist durch die Digitalisierung der Arbeitsprozesse gekennzeichnet. Das setzt neue Schwerpunkte der Qualifizierung, wie man zum Beispiel in Gewerken wie dem Kfz-Handwerk sieht. Techniklastige Berufe werden noch techniklastiger. Die Arbeitsweise ändert sich. Wir sehen eine zunehmende Abhängigkeit von internationalen Lieferketten. Während dasHandwerk davon früher relativ unabhängig war, zeigt sich seit der Corona-Pandemie eine gegenläufige Entwicklung. Das Handwerk ist fast so abhängig von internationalen Lieferanten wie manche Industrien. Das sind die Nachteile der Globalisierung. Seit 2015 verschärfen sich auch Probleme, für die wir bis heute keine Lösung gefunden haben, etwa der Fachkräfte- und Nachwuchsmangel. Die Bürokratisierung hat unerhörteAusmaße angenommen.

Seit 2015 verschärfen sich auch Probleme, für die wir bis heute keine Lösunggefunden haben, etwa der Fachkräfte- und Nachwuchsmangel.

Wie reagiert das Handwerk auf diese Herausforderungen?

Zum Glück mit Tatkraft. Das Handwerk wird aktiv und stellt sich den Herausforderungen. Es beginnt, selbstbewusst um seinen guten Ruf als Arbeitgeber zu kämpfen. Ein Ergebnis ist die Imagekampagne. Und die Betriebe werden bunter. Sie beschäftigen Migranten. Mehr Frauen finden ihren Weg ins Handwerk. Beeinträchtigte Menschen kommen dazu. Es gesellen sich Spät- und Quereinsteiger dazu.

Sie sind trotz der Probleme optimistisch fürs Handwerk?

Die Handwerksorganisation verfügt aufgrund der Tatsache, dass sie eben Selbstverwaltungsorganisation ist, über eine äußerst breite Gemeinwohlverantwortung. Handwerkerinnen und Handwerker sind in der Regel die Ehrenamtsträger vor Ort. Sie engagieren sich in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen. Entscheidend ist aber die Beratungsfunktion für die Politik. Wenn die Handwerksorganisation diese Aufgabe nicht ernst genug nimmt, dann kommen solche Gesetze wie 2003/2004 zustande. Hier sehe ich die eigentliche Verantwortung der Handwerksorganisation. Sein besonderes Verantwortungsbewusstsein zeigt das Handwerk aber auch als Arbeitgeber. Wir dürfen nicht vergessen: In der großen Bankenkrise 2009 hat das Handwerk die Leute gehalten, während andere massenhaft Personal entlassen haben.

Was macht das Handwerk so stark?

Die Fähigkeit, sich anzupassen und zu verändern. Die Anpassungsfähigkeit des Handwerks beruht auf zwei Säulen: auf der Tradition und auf der Innovation. Seine einzigartige Könnerschaft basiert auf hoher fachlicher Qualifikation und einem riesigen Fundus an Erfahrungswissen. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Es ist den modernsten Laboren nicht gelungen, auch nur eine einzige Geige herzustellen, die die Qualität einer Stradivari hat – und Stradivari war Handwerker. Vermutlich profitierte er bereits als Schüler von dem Wissen Nicola Amatis, des Enkels des großen Geigenbauers Andrea Amati, die er schließlich beide übertraf. Innovation basiert also letztendlich auf Tradition. Ich glaube, aus beidem erwächst der Stolz des Handwerks.

Zur Person

Dr. phil. Thomas Felleckner ist Neuzeithistoriker und Politikwissenschaftler. Zu seinen fachlichen Schwerpunkten gehören die Kultur- und Sozialgeschichte des Handwerks inDeutschland. Er betreut den Bereich Handwerksgeschichte sowie das Historische Archiv bei der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade. Er ist Mitgründer undstellvertretender Vorsitzender des Interdisziplinären Arbeitskreises Handwerksgeschichte (InAH) beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Seit 2021 ist er Mitglied im Fachkomitee für Immaterielles Kulturerbe der Deutschen Unesco-Kommission.

Dr. Thomas Felleckner
Fotostudio Sascha Gramann